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Bild: ESO

Wegweiser der Schweizer Teilchenphysik

CHIPP-Roadmap benennt künftige Forschungsprioritäten

Auf den ersten Blick erscheint die Teilchenphysik als eine klar definierte Teildisziplin der Physik. Bei näherem Hinsehen erkennt man dann eine ausdifferenzierte Forschungslandschaft mit einem breiten Spektrum von Fragestellungen. Das Swiss Institute for Particle Physics (CHIPP), die Dachorganisation der Schweizer Teilchenphysik, hat nun in einer Roadmap die Forschungsschwerpunkte der kommenden Jahre und Jahrzehnte abgesteckt.

Die neue CHIPP-Roadmap legt die künftige Marschrichtung der Schweizer Teilchenphysik fest, dies mit einem Zeithorizont von mehreren Jahrzehnten.
Bild: CHIPP

Wissenschaftliche Ergebnisse lassen sich naturgemäss nicht vorhersagen. Eine Planung – und zwar langfristiger Art – braucht indes Beschleuniger und Experimente, ohne die Fortschritte in der Hochenergiephysik heute nicht mehr denkbar sind. Beschleuniger und Experimente der physikalischen Grundlagenforschung haben eine hohe Komplexität. Entsprechend lang ist ihre Entwicklungszeit. Experimente sind zudem so konzipiert, dass sie über Jahre oder sogar Jahrzehnte unter Einbezug neuer Erkenntnisse schrittweise erweitert werden können.

Eine Vision als Vorlage für die Politik

Eine wissenschaftliche Vision für die Weiterentwicklung der Disziplin ist in der Teilchenphysik unabdingbar. Diese langfristige Planung steht mitunter jedoch im Kontrast zu den Budgetzeiträumen der politischen Akteure, die diese Forschung alimentieren. Oder in den Worten von CHIPP-Präsident und ETH-Physikprofessor Rainer Wallny: «Als Physiker befassen wir uns mit der Frage, welche Experimente im Jahr 2045 in Betrieb gehen sollen. Was wir für solch langfristig gedachte Experimente an Mitteln brauchen, lässt sich kaum auf die nächste BFI-Botschaft herunterbrechen.» Bei der BFI-Botschaft bezieht sich Wallny auf das Forschungsbudget, das das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) jeweils für vier Jahre zuhanden der Eidgenössischen Räte vorbereitet (nächstmals für die Periode 2025-28) und durch welches u.a. die Schweizer Teilchenphysikforschung stark unterstützt wird.

Wenn die Schweizer Teilchenphysik eine ‹Roadmap› ihrer Forschungsschwerpunkte für die kommenden Jahre und Jahrzehnte auflegt, ist dies also zwangsläufig der Kompromiss zwischen einer wissenschaftlichen Vision und einem – zumindest auf der Zeitskala der Teilchenphysikforschung – eher kurzfristig orientierten Ressourcenplan zuhanden der Politik. Diesem doppelten Anspruch genügt die Roadmap, welche die CHIPP-Verantwortlichen im Frühjahr 2021 vorgelegt haben. Es ist keine Premiere. Schon im Jahr 2004 hat CHIPP im Namen der Schweizer Teilchenphysik eine ‹Roadmap› erarbeitet (und 2011 dann in einem Folgedokument aktualisiert). Die Teilchenphysik hat sich seither aber weiterentwickelt, wie die Entdeckung des Higgs-Bosons im Jahr 2012 oder die letzten spannenden Ergebnisse vom CERN oder Fermilab beispielhaft verdeutlichen (vgl. die Artikel ‹Wenn die Münze häufiger ‹Kopf› zeigt als ‹Zahl›› und ‹Verschiedene Ergebnisse rütteln am Standardmodell›[BV1] ). Die Teilchenphysik ist in den letzten Jahren auch breiter geworden: Neue Experimente der Astroteilchenphysik bewegen sind an der Grenze zur Astrophysik. Die in CHIPP organisierte Schweizer Teilchenphysik wird in Zukunft deshalb enger mit CHAPS (College of Helvetic Astronomy Professors) zusammenarbeiten.

Ein Nachfolger für den LHC

Die neue CHIPP-Roadmap ist ein 100-Seiten-Dokument, welches die aktuellen Entwicklungen im Feld der Teilchenphysik dokumentiert und künftige Entwicklungen vorausdenkt. Aus dem breiten Forschungsfeld können vier Entwicklungsrichtungen beispielhaft hervorgehoben werden: Eine klare Perspektive hat die Disziplin mit dem ‹Future Circular Collider› (FCC), einem 100 km langen Ringbeschleuniger, der 2045 an die Stelle des heutigen Teilchenbeschleunigers LHC (Large Hadron Collider) treten soll. «Das ist das Flagship-Projekt, hinter dem die Schweizer Teilchenphysik geschlossen steht», sagt Rainer Wallny. Für dieses Grossprojekt – Teil der Europäischen Strategie für Teilchenphysik des CERN – wurden erste Machbarkeitsstudien in Auftrag gegeben.

Die Schweizer Teilchenphysik hat ihre Forschung schon vor Jahren darauf ausgerichtet, einen wichtigen Baustein zu diesem Grossprojekt beisteuern zu können: nämlich Magnete von einer bislang unerreichten Leistungsfähigkeit, welche nötig sind, um auf Quasi-Lichtgeschwindigkeit beschleunigte Protonen auf einer 100-km-Umlaufbahn zu halten. Diesem Zweck dient die CHART-Forschungsinitiative, deren zweite Förderperiode in zwei Jahren enden wird. «Wir wollen alles daran setzen, dass dieses Magnet-Manhattan-Projekt über das Jahr 2023 hinaus verlängert wird, denn es schafft die Voraussetzung für den Bau des FCC, der unserer Disziplin die Brücke in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts bauen wird», sagt Rainer Wallny.

Neutrinos verstehen, Dunkle Materie finden

Das CERN ist ein Flaggschiff der Hochenergie-Physik. Die Forschungseinrichtung auf Genfer Boden spielt für die Schweiz eine wichtige Rolle. Auch für die Neutrino-Physik – ein weiteres Gebiet der Teilchenphysik – ist das CERN von grosser Bedeutung, nämlich über die CERN Neutrino Plattform. Die Neutrino-Physik widmet sich der Erforschung der elektrisch neutralen, leichtgewichtigen Neutrino, die in drei Arten vorkommen und sich in fast wundersamer Weise ineinander verwandeln können. In Japan und den USA entstehen in den nächsten Jahren zwei Grossexperimente der Neutrino-Forschung unter den Namen ‹Hyper-Kamiokande› und ‹DUNE›. Aus historischen Gründen sind Schweizer Forscherinnen und Forscher an beiden Experimenten beteiligt, und so empfiehlt die CHIPP-Roadmap die Fortführung beider Projekte auch für die Zukunft.

Ein drittes Gebiet, mit der die Roadmap in die Zukunft weist, betrifft die Erforschung der Dunklen Materie. Hierzu sind in den letzten Jahren verschiedene Experimente aufgebaut worden, darunter eine Serie von Experimenten unter dem Namen XENON im Grand-Sasso-Untergrundlabor in den italienischen Abruzzen. Das Schweizer Gesicht der Suche nach Dunkler Materie ist Laura Baudis. Sie hatte das XENON- Experiment quasi mit im Gepäck, als sie 2007 als Professorin an die Universität Zürich wechselte. Auch wenn der experimentelle Nachweis von Dunkle-Materie-Teilchen in jüngerer Vergangenheit schon zum Greifen nah schien, wurde bis heute noch kein Signal gefunden. Doch die Suche nach Dunkler Materie geht weiter. So wird ca. 2028 das DARWIN-Experiment als Nachfolger der XENON-Experimente in Betrieb gehen. Parallel dazu wird an Beschleunigern nach neuen Teilchen gesucht, die Kandidaten für die Dunkle Materie sein könnten. Vielversprechend ist auch die indirekte Suche über astrophysikalische Beobachtungen, woraus man lernen könnte, wo sich im Universum die Dunkle Materie befindet.

Kooperation mit der Astronomie

Die Teilchenphysik hat in der Astroteilchenphysik seit jeher Berührungspunkte mit der Nachbardisziplin Astronomie. So sucht CHIPP denn auch verstärkt Kontakt zur Partnerorganisation in der Astronomie, dem ‹College of Helvetic Astronomy Professors› (CHAPS). Eine Zusammenarbeit bietet sich im geplanten ‹Cherenkov Telescope Array› (CTA) an, einer Anordnung aus mehreren Dutzend Cherenkov-Teleskopen zur Erforschung astronomischer Gammastrahlen-Quellen. Ein weiteres mögliches gemeinsames Projekt wäre das künftige europäische Einstein-Teleskop zur Beobachtung von Gravitationswellen. Letztere wurden von Albert Einstein 1916 vorhergesagt und 2015 erstmals vom US-amerikanischen LIGO-Detektor nachgewiesen.

Neben diesen vier exemplarisch benannten Bereichen erstreckt sich die Roadmap über eine breite Palette weiterer Forschungsgebiete, in denen Schweizer Forscherinnen und Forscher oft an vorderster Front mitwirken. Die CHIPP-Roadmap ist damit die Stimme aller rund 450 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die in der Schweizer Teilchenphysik tätig sind. Indem die Roadmap die längerfristigen Perspektiven dieser Grundlagenforschung aufzeigt, hat sie auch eine wichtige Funktion zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Denn je attraktiver die Forschungsprojekte in einem Fach, um so mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler lassen sich für ein Fach begeistern.

Die Verantwortung der künftigen Generation

Hinter der Roadmap steckt auch eine Art Generationenvertrag, wie Rainer Wallny treffend bemerkt. Denn wenn die Roadmap eine Forschungsanlage wie den FCC unterstützt, welche in rund 25 Jahren den Betrieb aufnehmen soll, heisst das nichts anderes, als dass die heute aktiven Wissenschaftler die Infrastruktur für jene Forschenden planen, die heute gerade erst zur Welt kommen. Allerdings werden die künftigen Forscherinnen und Forscher wohl andere Lebensentwürfe haben als die heute aktiven. Dr. Katharina Müller, Teilchenphysikerin der Universität Zürich, die massgeblich an der CHIPP-Roadmap mitgewirkt hat, verweist als Beispiel auf die aktuelle Klimadiskussion: «Mit welchen Experimenten auch immer wir in Zukunft Teilchenphysik betreiben wollen, werden wir den Aufwand nicht nur finanziell, sondern auch bezüglich Umwelt und Klima rechtfertigen müssen. Dieser Effort ist nötig, damit der künftigen Generation eine Forschungsinfrastruktur zur Verfügung steht, die sie mit dem eigenen Gewissen und gegenüber der Gesellschaft verantworten kann.»

Autor: Benedikt Vogel

(hinweis) Die ‹CHIPP Roadmap for Research and Infrastructure 2025-2028 and beyond by the Swiss Particle Physics Community› ist abrufbar

Die zehn Empfehlungen der CHIPP-Roadmap

Die Quintessenz der CHIPP-Roadmap sind zehn Empfehlungen für die Forschungsschwerpunkte der Schweizer Teilchenphysik in den nächsten Jahren und Jahrzehnten. Die Empfehlungen werden nachfolgend in gekürzter und vereinfachter Form wiedergegeben:

Empfehlung 1: Die Schweiz unterstützt das CERN weiterhin nachdrücklich als das weltweit führende Teilchenphysik-Forschungsinstitut. Die Schweiz beteiligt sich am CERN-Programm für den Bau eines ‹Future Circular Collider› (FCC), der ca. 2045 den Teilchenbeschleuniger LHC ablösen soll. Im Fokus zur Vorbereitung des ersten FCC-Teilprojekts (FCC-ee) stehen Detektorentwicklung, theoretische Forschung, aber auch Datenanalyse und -simulation. Die Schweiz unterstützt die Fortsetzung des erfolgreichen Programms ‹Swiss Accelerator Research and Technology› (CHART), mit dem leistungsfähige Magnete für das zweite FCC-Teilprojekt (FCC-hh) entwickelt werden.

Empfehlung 2: Die Schweiz unterstützt nachdrücklich das wissenschaftliche Programm am optimierten CERN-Teilchenbeschleuniger unter dem Namen ‹High Luminosity Large Hadron Collider› (kurz: HL-LHC, in Betrieb ab 2026). Hierzu gehören Betrieb und Upgrade der HL-LHC-Experimente ATLAS, CMS und LHCb, an denen Schweizer Forscherinnen und Forscher massgeblich beteiligt sind. Um die wachsenden Datenmengen des HL-LHC zu bewältigen, wirkt die Schweiz am Ausbau der Computer-Infrastruktur mit, möglicherweise in Kooperation mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen, die auf Hochleistungsrechner angewiesen sind.

Empfehlung 3: Nachdrücklich unterstützt wird die Grundlagenforschung am Paul Scherrer Institut (PSI). Die dort durchgeführten Präzisionsexperimente arbeiten mit Teilchenstrahlen von hoher Intensität und tieferer Energie als am LHC. Das sind Experimente am bestehenden HIPA-Beschleuniger oder auch am geplanten Myonenstrahl mit sehr hoher Intensität (HIMB). CHIPP befürwortet den Aufbau einer Fixed-Target-Einrichtung mit hoher Leistung am CERN oder anderswo, aber auch weitere Experimente, die auf «neue Physik» – also Erkenntnisse jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik – abzielen.

Empfehlung 4: Die Schweiz unterstützt nachdrücklich die Neutrino-Experimente Hyper-Kamiokande (Japan) und DUNE (USA), welche die Eigenschaften der Neutrinos beim Zurücklegen grosser Entfernungen (‹long-baseline›) erforschen. In der Neutrino-Forschung werden überdies Experimente zum Nachweis des neutrinolosen Doppel-Beta-Zerfalls durchgeführt.

Empfehlung 5: Unterstützt wird weiterhin die direkte Suche nach Dunkler Materie, wobei neben den ‹Schwach wechselwirkenden massereichen Teilchen› (WIMP) auch weitere potenzielle Bausteine der Dunklen Materie miteinbezogen werden. Daneben werden bei der Erforschung der Dunklen Materie indirekte Wege via astronomische Beobachtungen über alle verfügbaren Kanäle wie Astroteilchen, elektromagnetische und kosmische Strahlung, aber auch Neutrinos und Gravitationswellen eingeschlagen (‹multi-messenger Astronomie›).

Empfehlung 6: Die Verbindungen zwischen Teilchenphysik (CHIPP) und Astronomie (CHAPS) werden wissenschaftlich und technisch weiter ausgebaut. Im Interesse der beiden Disziplinen beteiligt sich die Schweiz am CTA-Projekt (Cherenkow-Teleskope auf der Nord- und Südhalbkugel zur Beobachtung von astronomische Gammastrahlenquellen).

Empfehlung 7: Die Schweiz führt ihre starke Präsenz in der theoretischen Teilchen- und Astroteilchenphysik sowie in der Kosmologie fort.

Empfehlung 8: Die Schweizer Forschungseinrichtungen führen ihre Aktivitäten im Wissens- und Technologietransfer fort und bauen sie aus. Diese Kooperation stärkt viele Schweizer und ausländische Unternehmen, und sie wird wie schon in den letzten Jahren eine stattliche Zahl von Start-ups mit innovativen Geschäftsideen hervorbringen.

Empfehlung 9: Die CHIPP-Mitglieder pflegen mit einer pro-aktiven Öffentlichkeitsarbeit den Austausch von Forschenden der Teilchenphysik mit der Öffentlichkeit, u.a. mit Vorträgen, Besuchsprogrammen oder Veranstaltungen für Gymnasiastinnen und Gymnasiasten.

Empfehlung 10: Teilchenphysik-Institute entwickeln Strategien zur Unterstützung des wissenschaftlichen Nachwuchses, beispielsweise Weiterbildungsangebote oder Austausch-Plattformen.

CHIPP Roadmap Workshop 27-28 August 2020, Kandersteg
CHIPP Roadmap Workshop 27-28 August 2020, KanderstegBild: CHIPP, Switzerland

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